HARMONIELEHRE Christian Seiler, Das Magazin 30. Oktober 2015 Ein Apfelkuchen in Dur, einer in Moll und der beste genau dazwischen. Kochen ist wie Musizieren. Alle Gerichte folgen ihrer eigenen Harmonielehre. Es gibt heitere, klare Gerichte, die der natürlichen Abfolge von Durakkorden entsprechen, und andere, in die sich die Melancholie von Mollharmonien mischt. Es gibt komplexe Gerichte, deren harmonisches Konzept sich nur Spezialisten erschliesst, und es gibt solche, in deren Grundakkorde sich ein leiser, aber interessanter Klang mischt, von dem man zuerst nicht weiss, ob er vielleicht stört, bis man merkt, dass es genau dieser Ton ist, der das Gericht interessanter macht als viele andere. Es ist Herbst, es gibt Äpfel. Ihr Geruch, wenn sie im Backofen in den nächsten Aggregatzustand überführt werden, tröstet mich ein bisschen über den Abschied des Sommers hinweg. Die klassische Tarte Tatin ist ein perfektes Beispiel dafür, wie der säuerliche Apfel mit karamellisiertem Zucker und knusprigem Teig eine klare Durharmonie eingeht: gänzlich ungestört von Nebengeräuschen, fröhlich und vertraut. Noch opulenter wird der Klang des Wohlgeschmacks bei meinem Lieblingsrezept, dem Apple Crumble. Denn der Geschmack der zerkochten, süsssäuerlichen Äpfel wird durch die mollige, gemütliche Textur des Streusels noch einmal verstärkt. Wenn die Tarte Tatin also dem klassischen Harmonieschema folgt, dann fügt der Crumble demselben harmonischen Schema noch Schwingungen in den unteren, sinnlichen Oktaven hinzu. Der Apfelkuchen, dessen Geschmack einen Schritt weiter geht und das klare Dur-Schema dieser beiden Klassiker um einen blauen, sehnsüchtigen, aber auch grossartigen Ton ergänzt, ist etwas aufwendiger als Crumble und Tarte Tatin. Der Teig aus Butter, braunem Zucker, einem Ei, Mehl und Backpulver muss zuerst gekühlt und dann vorgebacken werden (ich habe Rezepte wie dieses von Nigel Slater, in denen Tortenböden mit Linsen oder getrockneten Bohnen für einen ersten Durchgang in den Backofen müssen, bisher immer weiträumig umgangen; diesmal nicht. Fazit: gute Entscheidung). Gleichzeitig müssen fast zwei Kilo säuerlicher Äpfel (Boskop oder Cox Orange) geschält, vom Kerngehäuse befreit und in Spalten geschnitten werden, was sich anfühlt, als müsse man eine halbe Stunde lang dieselbe monotone Phrase am Klavier üben. Aber dann die Erweiterung des Spektrums. Zur Zitrone, die den Eigengeschmack der Äpfel nach unten abrundet, und zum braunen Zucker, der den gewohnten, schmeichlerischen Kontrapunkt setzt, kommen gemahlener Zimt und – dies die Irritation – eine kräftige Prise geriebener Muskatnuss. Sie macht, dass die Apfelfüllung zwar gewohnt köstlich schmeckt, aber eleganter und feingliedriger auftritt als in anderen Kompositionen. Es bedarf eines gewissen Fingerspitzengefühls, die Äpfel so in den vorgebackenen Teig einzufüllen, dass dieser nicht gleich von der Flüssigkeit durchweicht wird. Man darf sich also mit ein, zwei Löffeln von der köstlichen Apfel-Zimt-Muskatnuss-Flüssigkeit belohnen, nachdem man die Apfelstücke in den Kuchen geschaufelt und diesen oben mit einer letzten Schicht rohem Teig abgedichtet hat. Der Apfelkuchen braucht jetzt eine Dreiviertelstunde, um fertig zu backen. Sobald er fertig ist, bedarf es einiger Geduld, um ihn abkühlen zu lassen. Dann wird er vorsichtig aus der Form genommen und mit einem scharfen Messer in angemessen grosse Stücke geschnitten. Dazu natürlich ausreichend Schlagrahm. Teig: 200 g Butter 200 g brauner Zucker 1 grosses Ei 400 g Mehl 1 gehäufter TL Backpulver ein wenig Milch und Zucker zum Schluss Füllung: 1,8 kg Äpfel (Boskop, Cox Orange oder ähnlich säuerliche Sorten) 1 Zitrone 2 EL brauner Zucker 1 Messerspitze gemahlener Zimt 1 grosszügige Prise frisch geriebene Muskatnuss Schlagrahm zum Servieren Für den Teig die lauwarme Butter in Würfel schneiden und mit dem Mixer cremig rühren. Zucker hinzufügen und verrühren. Das Ei in ein Glas aufschlagen und unter die Buttermasse rühren. Mehl und Backpulver vermischen und vorsichtig und langsam unter die Buttermischung ziehen. Sobald das Mehl untergerührt ist, mit dem Mischen aufhören. Den Teig auf eine leicht bemehlte Arbeitsfläche legen und zu einer dicken Wurst rollen. In Folie einwickeln und für 30 Minuten in den Kühlschrank legen. In der Zwischenzeit die Äpfel schälen. Die fertig geschälten Äpfel in eine Schüssel mit Wasser geben, in das der Saft einer Zitronenhälfte gepresst wurde. Äpfel vierteln, entkernen und in dicke Spalten schneiden. Danach wieder ins Zitronenwasser legen. Apfelspalten zum Schluss gut abtropfen lassen und in einen schweren Topf mit Zucker, Zimt, Muskatnuss und dem Saft der zweiten Zitronenhälfte geben. Zum Kochen bringen, dann nur noch köcheln lassen, bis die Äpfel weich sind, aber noch nicht zerfallen. Das dauert etwa 10 bis 15 Minuten. Abkühlen lassen. Eine Kuchenspringform von 20 Zentimeter mit Butter einfetten. Teig aus dem Kühlschrank nehmen, ein Drittel abschneiden und den Rest zurück in den Kühlschrank legen. Dicke Scheiben vom großen Teigstück abschneiden und damit den Boden und die Seiten der Backform auslegen. Dabei den Teig nur leicht andrücken und mögliche Risse zustreichen. Der Teig soll recht dick sein. Für 20 Minuten kalt stellen. Den Backofen auf 200 Grad vorheizen. Auf den Teig in der Kuchenform ein Blatt Backpapier legen, dann getrocknete Bohnen zum Blindbacken daraufgeben. So bleibt der Teig in Form. Ein Backblech in den Ofen schieben und, wenn es erhitzt ist, die Kuchenform daraufstellen. 15 Minuten lang backen, aus dem Ofen nehmen und etwas abkühlen lassen. Temperatur im Ofen auf 180 Grad reduzieren. Nun die Äpfel bis zum oberen Teigrand einfüllen. Dabei darauf achten, dass möglichst wenig Flüssigkeit in die Form läuft. Den restlichen Teig auf die Grösse der Form ausrollen und diese Teigplatte obenauf legen. Alle offenen Stellen schliessen und den rohen Teig vorsichtig an den vorgebackenen pressen. Drei Messerschnitte in die obere Teigplatte machen, sodass der Dampf entweichen kann. Den oberen Teig mit etwas Milch einpinseln. Auf dem heissen Backblech 45 Minuten lang backen, bis der Kuchen oben nussbraun ist. Aus dem Ofen nehmen, mit ein wenig Zucker bestäuben und 15 Minuten ruhen lassen. Mit einem Palettenmesser den Kuchen an den Rändern lösen, aber noch in der Form lassen. Erst wenn der Kuchen vollständig abgekühlt ist, wird er vorsichtig aus der Form genommen. Mit Schlagrahm servieren. Das Rezept stammt aus dem Buch „Tender/Obst“ von Nigel Slater, Verlag Dumont Tarte Tatin WOCHENENDEINKAUF: ÄPFEL – WIR BACKEN TARTE TATIN Christian Seiler, Das Magazin 15. Dezember 2012 Obst und Winter, das ist eine schwierige Beziehungsgeschichte. Wenn es einen Spezialisten des Vertrauens gibt, der eine gute Quelle für exotische Früchte kennt, hat man Glück. Wenn man im Biomarkt auf die Himbeeren aus Uruguay reflektiert, muss man aufpassen, nicht in Erklärungsnotstand zu geraten. Hingegen ist der Griff zum Apfel stets eine lohnende Option, wenn es sich um die richtige Sorte handelt und man einen Plan hat, was man mit unserem beliebtesten Obst zu Hause anstellen soll – immerhin mit der Königin der Rosengewächse, zu der die über 50 Sorten von Äpfeln gehören, die hierzulande wachsen. Klar, man kann den Apfel einfach aufessen. Das gilt seit einigen Generationen als Musterbeispiel für gesunde Ernährung, Ihr erinnert Euch, an apple a day keeps the doctor away. Man kann den Apfel schälen, in Schnitze schneiden, mit Zitrone beträufeln und mit etwas Zimt bestäuben, und man hat einen vielschichtigen, feinen Imbiss. Man kann Äpfel zu Mus verkochen und mit diesem Apfelmus ein Müsli anrühren, das keines Joghurts bedarf. Man kann in wenigen Minuten Kompott kochen und dieses mit etwas clotted cream verzehren. Aber es gibt eine Königsmethode, Äpfel zuzubereiten, und das Resultat dieser Bemühung heisst Tarte Tatin. Tarte Tatin ist ein Königsgericht mit unserem Königsobst. Ich kenne kaum ein Gericht, das die Vorzüge des Apfels so bestechend zur Geltung bringt, seine Geschmackstiefe, seine Neigung, warm noch besser zu schmecken als kalt, seine fruchtbare Liaison mit Zucker und Karamell. Diese Tarte, die auf unkonventionelle Weise gebacken wird, hat eine witzige Geschichte (die nicht unbedingt stimmen muss, aber als Geschichte funktioniert und deshalb für wahr erklärt wird): Zwei ältere Schwestern namens Tatin, die in Zentralfrankreich lebten, hätten für Gäste einen Apfelkuchen zubereitet. Dieser sei der einen jedoch entglitten, und – Gesicht nach unten – auf den Tisch gefallen. Darauf habe die andere den verkehrten Kuchen zurück in die Backform gelegt, mit Teig bedeckt und noch einmal gebacken. Das Resultat … ich liebe das Resultat. Hier ein besonders einfaches Rezept für die Tarte Tatin, mit Erfolgsgarantie. Wir benötigen: 1 rundes Backblech (30cm) oder idealerweise die gusseiserne Tarte Tatin-Form von Le Creuset: eine Anschaffung fürs Leben 3 bis 4 säuerliche, aromatische Äpfel (Boskoop oder Elstar) 1 Blätterteigrechteck von 30x40cm, ausgewallt (Okay, man könnte hier natürlich darüber diskutieren, ob fertiger Blätterteig satisfaktionsfähig ist oder nicht; klar ist es sportlicher, den Teig selbst zu machen, aber um einen guten Blätterteig hinzukriegen, muss man sich schon ganz besonders abrackern: dieses Rezept soll schnell gehen und köstlich schmecken. Wir nehmen also für einmal fertigen Bio-Blätterteig von der Migros oder der Coop.) 3 EL Zucker 30g Butter Ausgekratzte Samen von einer halben Vanilleschote Ofen auf 220 Grad vorheizen. Den Blätterteig zuschneiden: der Teig muss genau auf die Backform passen. Zucker mit den Vanillesamen mischen. Butter in die Backform geben und diese in den Ofen schieben, bis die Butter geschmolzen ist. Form herausnehmen, Vanillezucker gleichmässig über die Butter streuen und die Form zurück in den Ofen schieben. Warten, bis die Zucker-Butter-Mischung Farbe annimmt und karamellisiert. Dann die Form wieder aus dem Ofen nehmen und die Temperatur des Ofens auf 190 Grad zurückstellen. Äpfel schälen, achteln, Kerngehäuse entfernen. Die Apfelschnitze dicht nebeneinander in die Backform legen (mit spitzen Fingern, denn das Karamell ist heiss). Teig auf die Äpfel legen. Mit den Resten des Teigs einen Rand flechten und diesen mit den Fingern andrücken. Mit einer Gabel Löcher in den Teig stechen, durch die Hitze und Feuchtigkeit entweichen können. In der unteren Ofenhälfte 20 Minuten backen, bis der Teig eine schöne, braune Farbe angenommen hat. Wir er zu schnell braun, etwas Alufolie darüberlegen. Tarte vorsichtig auf einen Teller stürzen und leicht auskühlen lassen, sie schmeckt lauwarm am besten. Das weiss ich allerdings nur vom Hörensagen, denn ich schaffe es nie, so lange zu warten. Mit jeder Art von Rahm (gerührtem Sauerrahm, halb geschlagener Schlagsahne, clotted cream oder Crème double) servieren. Macht glücklich. Apple Crumble MONTAGSDEMONSTRATION: DIE LIEBLINGSSPEISE (ODER WARUM DER APFELCRUMBLE DAS ZEUG DAZU HAT) Christian Seiler, Das Magazin 23. September 2013 Was macht ein gutes Rezept zu einem Lieblingsrezept? Die Antwort auf diese Frage hat mehrere Schichten. Der Kern ist der Geschmack, logisch. Es muss gut schmecken, mehr als gut, yummie. Aber wenn etwas yummie schmeckt, dann möchte man es nicht nur einmal pro Jahr essen wie Jeffrey Steingartens Coq au vin, der auch fantastisch schmeckt, aber in der Zubereitung so aufwändig und kompliziert ist, dass einmal pro Jahr eher schon eine hohe Frequenz ist. Ein Lieblingsrezept muss also einfach herzustellen sein. Es muss sicher funktionieren. Und es darf nicht viel Zeit kosten, denn es muss dir, wenn du darüber nachdenkst, was du heute zu Mittag kochen könntest, so schnell einfallen wie Spaghetti carbonara oder Rührei. Es darf keine außergewöhnlichen Ingredienzien haben, für die du im Zweifelsfall zum Asia-Markt oder auf den Bauernmarkt laufen musst, und keine Zwangsanwesenheit am Herd verlangen wie die Herstellung eines satisfaktionsfähigen Risottos. Darüber hinaus sollte es mit dem Geruch, den es bei der Zubereitung verströmt, die Vorfreude auf den Moment des Verzehrs befeuern. Im Klartext: Du sollst in der Küche stehen, zittern wie ein Rennpferd und nicht erwarten können, dass das Essen endlich fertig ist. Apfelcrumble ist ein solches Lieblingsrezept. Es handelt sich dabei um einen Kuchen, der nicht misslingen kann, weil er eigentlich kein Kuchen ist, sondern bloß ein bisschen Apfel mit einer Kruste aus Streusel. Aber was für Apfel. Der Apfel wird zuerst karamellisiert und dann gebacken, dabei verändert er Aussehen, Konsistenz und Geschmack. Die hellen, fast weißen Spalten, in die man den Apfel beim Vorbereiten zerlegt hat, gehen während der Zubereitungszeit aus dem Leim, lösen sich in ein süßsäuerliches Mus auf – aber nicht ganz, es bleiben Reste von Struktur, intensive Zentren von Wohlgeschmack, die sich mit dem knusprigen Buttergeschmack des Streusels ideal und yummie ergänzen. Das Rezept (mein liebstes und hier angegebenes stammt von Nigel Slater, der dem klassischen Crumble zwar noch einen Arbeitsschritt hinzugefügt hat – das Karamellisieren der Äpfel, bevor sie in den Ofen kommen –, dafür sorgt dieses Karamellisieren aber auch für den Wochenendduft im ganzen Haus): Für 4 Personen Für die Füllung: 850g Äpfel, am liebsten Boskoop oder eine andere säuerliche Sorte; große Äpfel bevorzugt, denn sie haben mehr Nettogewicht Saft einer halben Zitrone 75 Gramm Zucker 30 Gramm Butter Für die Streusel: 100 Gramm Butter 150 Gramm Mehl 50 Gramm Zucker Den Ofen auf 180 Grad vorheizen. Die Äpfel schälen, Kerngehäuse entfernen, in Spalten schneiden. Mit dem Zitronensaft und dem Zucker vermischen. In einer Pfanne – ich nehme einmal mehr die gußeiserne Tarte-Tatin-Pfanne von Le Creuset, die sich nachher gleich direkt in den Ofen stellen lässt – die Butter erhitzen, bis sie zu brutzeln beginnt. Dann die Äpfel hineingeben und so lange schmoren lassen, bis der Zucker zu karamellisieren beginnt. Umrühren. Wer keine Tatin-Form hat, gibt das karamellisierte Apfel-Zucker-Gemisch jetzt in eine Backform. Gleichzeitig wird der Streusel zubereitet: Die Butter in kleine Stücke schneiden und mit den Fingerspitzen ins Mehl kneten. Sobald sich Mehl und Butter verbunden haben und wie grober Sand (mit ein paar Brocken darin) aussehen, den Zucker dazugeben und einarbeiten – dauert keine Minute. Jetzt grob über die Äpfel krümeln, so dass diese vollständig unter dem Streusel bedeckt sind. In den Ofen geben und 40 bis 50 Minuten lang backen: Man sieht genau, wann die Oberfläche ihre ideale Farbtönung, ein herzhaftes Safaribraun, erreicht hat. Aus dem Ofen nehmen und ein bisschen abkühlen lassen. Auch der Crumble schmeckt lauwarm am besten. Wer mag, gönnt sich etwas gezuckerte Creme fraiche dazu.